Rollende Ikonen

Bei Rolls-Royce wird Kleinarbeit großgeschrieben und selbst der skurrilste Sonderwunsch erfüllt. Ein Werksbesuch beim Herzstück der britischen Automobilindustrie, das sich seit zwölf Jahren in deutscher Hand befindet

von Sandra Piske

In Goodwood fällt niemandem mehr vor Aufregung die Fish’n’Chips-Tüte aus der Hand, wenn ein Rolls-Royce vorbeifährt. Das gehört in dem Örtchen in West Sussex, einer Gegend, die vielleicht etwas euphorisch die Toskana Englands genannt wird, quasi zum daily business. Schön ist es hier, schön britisch. Sollte irgendwer über die Neuverfilmung der BBC-Tierarztserie „Der Doktor und das liebe Vieh“ nachdenken, würde sich Goodwood schon allein wegen der tollen Außendrehs als Spielort empfehlen. Einmal im Jahr feiert der Ort das Pferderennen Glorious Goodwood – selbstverständlich genau wie in Ascot mit dem Ausgefallensten, was die aktuelle Hutmode zu bieten hat. Ebenfalls nicht aus dem sozialen Terminkalender wegdenkbar: das Festival of Speed auf dem lokalen Rennparcours. Als sich Rolls-Royce 1999 für Goodwood als neuen Produktions­standort entschied, war die überbordende Britishness allein aber natürlich nicht ausschlaggebend. Es erwies sich als äußerst entscheidungsfördernd, dass die Flughäfen Heathrow und Gatwick genauso wie die Frachthäfen Portsmouth und Southampton beinahe um die Ecke liegen. Bevor die circa 20 täglich produzierten Wagen abgeholt oder verschickt werden, brausen sie auf einer zehn Meilen langen Testfahrt durch die hügelige Landschaft. Ähnlich gelassen wie in Goodwood registriert man wohl sonst nur noch am Berkeley Square auf die Anwesenheit eines Rolls-Royce. An dem Londoner Platz soll es die höchste Konzentration der Luxuskarossen weltweit geben.

Die Gelassenheit in Person ist auch Colin. Die Tatsache, dass er am Steuer eines Viertelmillion Euro teuren Gefährts sitzt, treibt ihm keinen Schweißschimmer auf die Stirn. Und das, obwohl der Wagenpreis vermutlich im krassen Unverhältnis zu seinem Jahreseinkommen steht. Colin gehört zu den Fahrern, die für Rolls-Royce die Gäste des Unternehmens von und nach Goodwood chauffieren. Obwohl er meint: „Eigentlich braucht man für die neuen Rolls-Royce gar keinen Fahrer. Die Wagen fahren sich ganz easy.“ Heute steuert er einen „Ghost“, das neue und etwas spritzigere Modell des Autobauers. Letzte Woche saß noch Jermaine Jackson auf der Rückbank. R’n’B-Sänger Usher hat er ebenfalls schon gefahren – mit dessen Mutter. Und auch die Stilspürnase David Beckham ist schon in Goodwood gesehen worden. Neuerdings fährt er mit seinem „Phantom Cabrio“ durch Beverly Hills. Man ahnt: Rolls-Royce-Besitzer sind keine alternden Gentlemen mehr, die auf dem Rücksitz aufmerksam die Times lesen. Sondern mitunter Stars oder Unternehmer, die schon früh zum ganz großen Geld kamen und noch vor dem 30. Geburtstag am Steuer ihres ersten Rolls sitzen.

1998 erwarben die Bayerischen Motoren Werke die Rechte für den Namen Rolls-Royce für das Automobilgeschäft. Ein Moment, an dem so manchem Traditionalisten auf der Insel fast das Minzplätzchen im Halse stecken blieb. Konnte man eines der alteingesessensten Unternehmen der Insel guten Gewissens in die Hände der Deutschen geben, ohne die Identität der Marke aufs Spiel zu setzen? Aus dieser Ecke ist es mittlerweile ruhig geworden. Denn ähnlich strikt wie deutsche Alt-68er ihre toskanischen Steinhäuser akribischer als jeder Italiener nach den regionalen Bräuchen restaurieren, achteten die Bayern peinlich genau auf die Wahrung der britischen Tradition. Ihr Designteam schloss sich über Wochen ein und studierte die Formen der alten Modelle. Als der erste „Phantom“ in der Silvesternacht 2003 kurz nach null Uhr an seinen Käufer übergeben wurde, war der Erleichterungsseufzer bis über den Kanal zu hören. Ein Rolls sah immer noch wie ein Rolls aus. Er hat wie immer die ungefähre Höhe zweier Reifen, einen hohen Radstand, den typischen aufrechten Kühlergrill, kurze Übergänge vorn und lange Übergänge hinten. Dem Coupé und einer Cabrio-Variante folgte 2009 der „Ghost“, bei dem teilweise die Technik der 7er-Serie von BMW verbaut wird. Von den Qualitätsverlusten der 80er Jahre bei Rolls-Royce spricht heute kein Mensch mehr in Großbritannien. Eher ist man stolz darauf, was aus dem Luxus­label wieder geworden ist.

Als Colin von der Hauptstraße in die Einfahrt des Autowerks einbiegt, zeigt der Rolls, worum es bei ihm geht: „arrival and departure in style“. Auch in den heutigen Wagen ist deutlich zu spüren, was ein Journalist 1911 als „Waftability“ beschrieb. Im Rolls zu sitzen fühlt sich an, als wäre man auf Schienen oder auf einem fliegenden Teppich unterwegs. Schon allein, wie sich die gegenläufig öffnenden Türen auftun, erklärt, warum Hollywoodstars sich so gern in einem solchen Gefährt zum roten Teppich bei den Oscars fahren lassen. Im Gebäude dann: eine überraschende Ruhe. Rolls-Royce entstehen in Handarbeit. Roboter gibt es nur in der abgeschlossenen Lackiererei, ihr Maschinenlärm dringt nicht in den restlichen Teil der Fertigung. Fünfmal werden die handgeschweißten Aluminiumrahmen lackiert und im Ofen getrocknet. Von den 44 000 möglichen Farbtönen geht Schwarz am besten. Danach durchlaufen die getrockneten Karosserien auf der Produktionslinie mehrere Stationen. An jedem Halt haben die Arbeiter 73 Minuten Zeit, um ihre Einbauten vorzunehmen. Zum Spaß ein Vergleich: Das Fließband im Bochumer Opelwerk ist auf einen Takt von 100 Sekunden eingestellt.

Eine der markantesten Stationen bei der Autofertigung ist die sogenannte Hochzeit, die Stelle, an der Motor und Karosserie sich zum ersten Mal begegnen und den Bund fürs Leben eingehen. Daneben steht ein Arbeiter an einem Tresor. Er trägt die Arbeitskluft: ein zweifarbiges Polohemd mit Streifen am Kragen, wie sie schon die Mods in den sechziger Jahren auf ihren Vespas vorführten. An der Brust ist „Steve“ in den Stoff gestickt. In dem Tresor verwahrt Steve die Spirit of Ecstasy, die er auf den Kühler montiert. Kurioserweise wird die Figur nur in Deutschland „Emily“ genannt. Warum, kann heute niemand mehr nachvollziehen. Was man aber doch weiß: Die Idee für eine Kühlerfigur kam von Frederick Henry Royce selbst. Der Ingenieur hatte im Mai 1904 im Midland Hotel in Manchester die Bekanntschaft mit dem Motor-Enthusiasten Charles Stewart Rolls gemacht. Schon im Dezember darauf gründeten sie Rolls-Royce und brachten 1907 mit dem „Silver Ghost“ den ersten Wagen auf den Markt. Ein Jahr, nachdem Rolls 1910 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, beauftragte Royce den Bildhauer Charles Sykes mit der Kreation einer Kühlerfigur. Der Künstler bat die Sekretärin Eleonore Thornton, ihm Modell zu stehen. Eleonore öffnete die Arme, hielt die Enden ihres Kleids in den Händen und wurde so zu dem Symbol für Rolls-Royce schlechthin.

Rein architektonisch haben Steve und seine Kollegen garantiert den schönsten Arbeitsplatz der Gegend. Der Architekt Sir Nicholas Grimshaw spendierte den Werksarbeitern mit großen Glasfronten ein Maximum an Tageslicht und einen postkartentauglichen Ausblick auf die grüne Landschaft. Auf dem 170 000 Quadratmeter großen Areal wurden 400 000 Pflanzen angesiedelt, dazu Tausende auf dem Dach des Gebäudes. Das Motiv für die üppige Bepflanzung war allerdings kaum, zum meist bepflanzten Bauwerk der Insel gekürt zu werden. Der Bau sollte so gut wie möglich in der Landschaft versteckt werden. Der Vermieter Lord March, dessen Großvater der Legende nach bereits mit Henry Royce Tee getrunken haben soll, hatte nur unter einer Prämisse in den Pachtvertrag eingewilligt: Das Werk durfte von seinem Schlafzimmer aus nicht zu sehen sein.

Wer wissen möchte, warum es zwei Monate und mehr dauert, bis ein „Phantom“ fertig ist, muss in den Woodshop. Um die 42 Holzteile für das Modell zu fertigen, braucht es allein 30 Tage. In aufwendiger Detailarbeit werden die besten Holzfurniere für die unterschiedlichen Stellen ausgesucht, denkbar ist dabei alles von Ahorn bis Zebrano. Wer zum Apfelbaum im eigenen Garten immer ein besonders inniges Verhältnis hatte und diesen gern am Armaturenbrett wiedersehen möchte, bekommt auch das geliefert. Das Holz wird mit einigen Schichten Alu zusammengepresst, geformt und ausgeschnitten. Danach wird per Hand poliert und lackiert. Wem nach Jahren ein Holzteil kaputt­geht, hat eine gute Chance, ein passendes Stück nachgeliefert zu bekommen, denn im Woodshop werden von jedem Baumstamm einige Furnierblätter aufbewahrt. Ähnlich aufwendig wie hier ist die Arbeit der 60 Leute im Leathershop: Zuerst werden die Schnittmuster per Laser auf das eingefärbte Leder geworfen und automatisch ausgeschnitten. Zehn komplette Häute wandern in die Ausstattung eines „Ghosts“, beim „Phantom“ sind es sogar bis zu 18. In der Näherei werden die Teile zusammengenäht, danach die Sitze und Ausstattungsteile damit bezogen. Das geht zum Beispiel so: In einer Maschine hängt der obere Teil eines Armaturenbretts. Ein Mitarbeiter zieht langsam das auf Passform genähte Leder darüber. Mit einem Fön aktiviert er den Kleber und streicht das Leder vorsichtig ein Stück weiter. Immer wieder. Immer wieder. Ohne dass der Geduldsfaden reißt. Nach zweieinhalb Stunden sitzt das Leder an der richtigen Stelle und das Armaturenbrett kann eingebaut werden.

In Goodwood kursiert die Geschichte, ein Käufer habe aus Respekt vor der finanziellen Misere seines Nachbarn darum gebeten, seinen neu bestellten Wagen erst einmal im Showroom stehen zu lassen. Selbstverständlich nicht, ohne ihn vorher trotzdem schon einmal zu bezahlen. Rolls-Royce werden gekauft, auch in Krisenzeiten – und die Zahl der potenziellen Käuferschaft steigt sogar noch. ­Insgesamt, wird flugs vorgerechnet, gibt es 8,6 Millionen Menschen, denen ein Vermögen von mehr als einer Million US-Dollar, und immerhin 72 000 Menschen, denen ein Vermögen von mehr als 30 Millionen ­US-Dollar zur Verfügung steht. Die Anzahl der Milliardäre weltweit stieg 2010 auf 1 011 im Vergleich zu den 793 des Vorjahres an. Hinsichtlich der Käufer von Rolls-Royce liegen die USA auf dem ersten Platz, gefolgt von Großbritannien, China und den Arabischen Emiraten. Den fünften Platz, und das überrascht, teilen sich Deutschland und Saudi-Arabien. Fast alle Wagen, die das Werk verlassen, sind schon im Vorfeld verkauft. Nur sehr wenige Händler bestellen auf Verdacht im Voraus. Im Jahr 2010 durchliefen 2 000 Wagen die Produktionslinie. Das sind 100 Prozent mehr als im Jahr davor – was allerdings auch mit der Einführung des neuen Modells zu tun hat.

 


Einen „Ghost“ gibt es ab 250 000 Euro, der „Phantom“ fängt bei 450 000 Euro an – mit viel Raum nach oben. Je mehr „Bespoke“, also je mehr Sonderanfertigungen in einem Wagen anfallen, desto höher sind Aufwand und der Preis. Rund 80 Prozent aller Rolls-Royce werden mit Extras bestellt, die auf der Zubehörliste nicht auftauchen. Obwohl das Motto eigentlich von einem anderen Autobauer okkupiert wird, könnte man hier sagen: Nichts ist unmöglich. Das Bespoke-Team geht alles an – vom kompletten Umbau des Innenraums über die Integration kleiner Gimmicks wie Kühlschränke oder einer DVD-Box bis hin zur Ausstattung des Kofferraums mit dem familieneigenen Tartanmuster. Sonderwünsche wie der zum Auto passende Picknickkorb sind seltener, aber sie kommen vor: 1 500 Stunden nahm sich die Bespoke-Abteilung für diesen Auftrag Zeit und entwarf einen Korb mit ausklappbaren Tabletts, Gläsern, Tellern und Besteck, Essig-Öl-Menage und diversen Behältern. Über den Preis einer solchen Spielerei lässt sich nur spekulieren. Zum Beispiel, dass man bei Opel dafür einen Neuwagen bekommen könnte. Allerdings ist nicht jede Extrawurst schön. Die Sonderwünsche aus dem Mittleren Osten nennt Gavin Hartley, Leiter der Bespoke-Designabteilung, politisch korrekt „visuell auffälliger“. Dort lässt sich die Kundin schon mal das Interieur mit pinkem Leder beziehen und rosafarbene Perlmutteinlagen ins Armaturenbrett arbeiten. „Wir maßen uns nicht an, den Kunden in seinem Geschmack lenken zu wollen“, sagt Hartley. Möglich aber, dass es ihm manchmal unter den Nägeln brennt.
Wenn alle Einbauten im Wagen und der simulierte Rüttel- und ein Regentest bestanden sind, kommt Paul zum Zug. Der gelernte Schildermacher sieht aus wie jemand, den man schon einmal gesehen hat. In einem Pub. Oder in einer Stadionkurve, weinend nach dem Englandspiel. Und dann verblüfft er plötzlich mit der sichersten Hand, die man je gesehen hat. Mit einem feinen Pinsel zieht er frei die sogenannte „Coachline“, den feinen Strich unterhalb der Türgriffe, über die gesamte Seite. Paul ist das Schlusslicht in der Produktionskette. Wenn er fertig ist, fängt seine Mittagspause an, und der Wagen kann nach dem Trocknen zur Testfahrt auf die Straße. Ob es Fish’n’Chips bei ihm gibt?

 

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